Welches ist die gravierendste Schwäche deiner Hauptfigur?
Weißt du nicht?
Dann hast du möglicherweise ein Problem.
Warum das so ist, und wie du das verhinderst, genau um das geht es in diesem Beitrag
Vermeide perfekte Charaktere
Ein makelloser Charakter ist kontraproduktiv, weil es dem Leser schwerfällt, sich mit ihm zu identifizieren.
Nobody is perfect – niemand ist perfekt.
Möglicherweise kennst du diese von übertriebenem US-Patriotismus strotzenden Bücher, Filme oder TV-Serien. Dann weißt, du, was ich meine. Auch wenn sich dort das Makellose oft auf die supertollen amerikanischen Behörden bezieht. Vom Gefühl der fehlenden Identifikation her ist es dasselbe. Jedenfalls für mich.
Aber es gibt auch noch einen weiteren Grund, weshalb dein Charakter Schwächen und Fehler braucht
Er soll sich ja im Verlaufe der Geschichte, des Buches weiterentwickeln. Das ist dann das, dass man als Charakterbogen, oder Charakter-Arc kennt.
Jetzt bin ich kein Fan davon, mich stundenlang hinzusetzten und mir über Charakterentwicklungen und dergleichen Gedanken zu machen. Das ist mir zu verkopft und raubt mir den Spaß am Schreiben.
Ich bin ein Verfechter der Theorie des Konsumierens. Damit meine ich jetzt nicht Genussmittel – also die teilweise auch – ich meine damit Lesen, Filme und TV-Serien schauen. Sprich, Storytelling, also Geschichtenerzählen unbewusst zu studieren. Je mehr du Geschichten konsumierst, je mehr verinnerlichst du auch die Gesetzte des Schreibens.
Und hey, wer kann schon von sich behaupten, dass Lesen, streamen und TV schauen zu seinem Beruf dazugehört?
Es ist also nicht so wichtig, wie du an die Sache der Charakterbildung herangehst. Vor dem Schreiben oder während des Schreibens – die Grundregeln bleiben die gleichen und an die solltest du dich schon halten. Und falls du die Regeln brechen willst, darfst du das gerne tun. Aber auch dafür musst du sie zuerst kennen.
Finde deinen Weg, mache dein Ding.
Dein Buch, deine Regeln.
Aber zurück zum Hauptcharakter
Wir brauchen also Schwächen. So weit, so gut. Es geht dabei um Identifikation mit dem Leser und Potenzial zur Weiterentwicklung der Hauptfigur.
Jetzt ist es wichtig, dabei die offensichtlichen Klischees zu vermeiden
Den mittellosen Detektiv mit Alkoholproblem, den sozial unbeholfenen IT-Nerd, die graue Maus, die sich in die Ballkönigin verwandelt und den hippen Forensiker, der direkt neben geöffneten Leichen sein Sandwich isst, haben wir schon zur Genüge. Diese Stereotypen sind mehr als ausgelutscht.
Funfact: Das waren alle ursprünglich mal ganz tolle Figuren. Nur hat sie dann jeder kopiert und jetzt sind halt zu Klischees geworden. Der Detektiv lässt sich auf Philip Marlow zurückverfolgen. Die graue Maus taucht schon in Cinderella auf. Die Forensiker gehen auf TV-Serien aus den Neunzigern und frühen 2000er, NCIS, CSI und & Co. zurück. Das mit den Computer-Nerds hat schon in den Achtzigern angefangen und wird bis heute ebenso in den TV-Serien fleißig bedient.
Man könnte auch sagen: Du bist einfach zu spät dran, um noch auf diesen Zug aufzuspringen.
Aber das bedeutet nicht, dass du diese Figuren nicht trotzdem erschaffen kannst. Versuche einfach, die offensichtlichen Klischees auszulassen. Ganz ohne Klischees auszukommen wird zwar schwierig, aber nur ein kleiner Twist kann schon Wunder bewirken.
Was könnten wir stattdessen mit diesen Figuren anfangen?
Der mittellose Detektiv könnte im Lotto gewonnen und dann seinen ganzen Gewinn verzockt haben. Was dazu geführt hat, dass er jetzt ein im Selbstmitleid zerfließender Zyniker ist. Immer noch ein bisschen Klischee, aber immerhin etwas anderes.
Der unbeholfene IT-Nerd könnte stattdessen leidenschaftlich Karate betreiben und ein Frauenheld sein, der gerne ausgeht.
Zugegeben, die Beispiele sind nicht supertoll, aber ich denke, du hast das Prinzip verstanden.
Aber genug der Theorie
Schauen wir uns einfach mal ein paar berühmte Roman- oder Filmfiguren an und schauen, wie das bei denen so mit den Schwächen aussieht.
Sherlock Holmes
Soziale Unbeholfenheit: Holmes' mangelnde soziale Fähigkeiten, insbesondere sein Unvermögen, Empathie zu zeigen, machen ihn oft zu einem schwierigen Partner und Freund.
Arroganz: Sein außergewöhnlicher Intellekt führt häufig zu Überheblichkeit und Herablassung gegenüber anderen, auch gegenüber seinem Freund Dr. Watson.
Drogenabhängigkeit: In einigen Geschichten greift Holmes zu Kokain und Morphium.
Obsessives Verhalten: Seine Besessenheit von Rätseln und seine Unfähigkeit, sich von einem Fall zu lösen, auch wenn es seine Gesundheit gefährdet, sind ein weiteres Merkmal seiner komplexen Persönlichkeit. Die ihm aber sowohl als Schwäche als auch als Stärke ausgelegt werden kann.
James Bond
—> James Bond steht eigentlich dafür, dass er alles kann. Aber trotzdem hat er auch Schwächen. Und welche das sind, schauen wir uns jetzt an.
Gerade in den alten Filmen oder in den Büchern werde diese deutlich klar.
Übermäßiges Selbstvertrauen: Bonds Selbstsicherheit grenzt oft an Überheblichkeit, was ihn in gefährliche Situationen bringt.
Emotionale Distanz: Obwohl er oft romantische Beziehungen eingeht, scheint Bond Schwierigkeiten zu haben, echte emotionale Bindungen aufzubauen.
Neigt zu Alkohol und Glücksspiel: Diese Laster werden in vielen Geschichten thematisiert und stellen sowohl Fluchtweg als auch Schwäche dar.
Rücksichtslosigkeit: Bonds Entscheidungen können rücksichtslos sein und haben oft schwerwiegende Konsequenzen.
Natürlich, es gibt auch viele faszinierende weibliche Charaktere mit interessanten Schwächen:
Lisbeth Salander
(aus Stieg Larssons "Millennium"-Trilogie)
—> Plötzlich sind dann ständig Pizza essende Hackerinnen in Lederjacken aufgetaucht.
Und sie übrigens ist ein wunderbares Beispiel, wie Stieg Larsson dem IT-Nerd Klischee einen neuen Twist verpasst hat. Es ist jetzt eine Frau und hat nichts nerdiges, sondern ist eher eine toughe Gotik-Braut.
Soziale Isolation: Schwierigkeiten im Aufbau und der Aufrechterhaltung zwischenmenschlicher Beziehungen, oft zurückzuführen auf Misstrauen und ihre traumatischen Erlebnisse.
Rücksichtslosigkeit bei Rache: Ihre Methoden der Selbstjustiz und Rache können extrem und manchmal moralisch fragwürdig sein.
Emotionale Verschlossenheit: Hat Probleme, sich emotional zu öffnen und Verletzlichkeit zu zeigen, was zwischenmenschliche Beziehungen erschwert.
Cersei Lannister
(aus George R. R. Martins "Das Lied von Eis und Feuer")
Machtbesessenheit: Ihre starke Fixierung auf Macht und Kontrolle führt oft zu rücksichtslosem und selbstzerstörerischem Verhalten.
Paranoia: Cerseis Misstrauen und Angst vor dem Verlust ihrer Macht führen zu impulsiven und oft kurzsichtigen Entscheidungen.
Familienbindung: Ihre intensive Bindung an ihre Kinder und ihren Bruder Jaime stellt sowohl eine Stärke als auch eine Schwäche dar, da sie dadurch emotional verwundbar wird.
Und wenn du dir jetzt eine Vorlage holen willst, das "Charakter-Fundament-Arbeitsblatt", wie ich es liebevoll nenne, dann kannst du das in der Autoren-Toolbox tun.